Vor etwa einem Jahr kam Nathalie Senf, eine ehemalige Opernsängerin und Gründerin des Chores HEARTCHOR im soziokulturellen Zentrum „Alte Brauerei“ in Annaberg-Buchholz, auf mich zu und bat mich um Hilfe. Als Leiterin des Projekts „Orte der Demokratie“ hatte sie sich bei Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025 um einen Zuschuss für ein internationales Projekt „Singen über Grenzen“ zum Thema „Arbeiterlieder“ beworben – ein Thema, was ihr Chor seit 2022 prägt. Das wird eine Herausforderung, war mein erster Gedanke (nicht, dass es in der tschechischen Grenzregion keinen Chor gäbe, der zur Mitarbeit bereit wäre, aber das Thema „Arbeiterlieder“ ist in Tschechien zugegebenermaßen nicht so „in“).
Der erste Versuch hat leider nicht geklappt, und so mussten dichtere Netze geknüpft werden. Die reizende Leiterin des Damenkammerchors Septem Cantet, die sich schließlich darauf einließ, vertraute mir erst viel später an, dass sie nur zugesagt hat, weil meine E-Mail so dringend klang und sie mir helfen wollte. Umso mehr freute ich mich, als das Eis beim gemeinsamen Chorwochenende in der Jugendherberge Sayda allmählich schmolz. Die Damen aus Klášterec nickten dem männlichen Teil des sympathischen HEARTCHOR zustimmend zu (dank der „Jungs“ klingt der Chor schön ausgewogen, obwohl es aus keinen Profis entsteht), die Soprane des Septem Cantet hingegen verblüfften die deutschen Sängerinnen und Sänger, und niemand zweifelte mehr daran, dass diese Konstellation auch in der Öffentlichkeit gut ankommen wird.
Schließlich war es soweit: Am Samstag, dem 26. April 2025, erklangen in der überraschend guten Akustik des schönen Chemnitzer Industriemuseums, zwischen polierten Oldtimern und alten Zahnrädern, die Melodien von Widerstand- und Solidaritätsliedern, Bergmannsliedern, Gospels, Liedern von Voskovec und Werich und dem Spirituál kvintet. Der Höhepunkt des Abends waren die ersten beiden Artikel der vertonten Menschenrechte, denn „was man singen kann, kann man sich besser merken“. Das Programm dauerte rund zwei Stunden, doch dem Publikum wurde es nicht langweilig: auch dank der interessanten Moderation und den wechselnden Konstellationen auf der Bühne. Obwohl es an diesem Abend an Veranstaltungen nicht mangelte, die Damen von Septem Cantet und ihre liebe Männer waren nicht die Einzigen, die extra aus Tschechien angereist sind. Das Konzert „Singen über Grenzen“ war ausverkauft und der Applaus nahm kein Ende. Und so fanden auch die anfangs etwas zurückhaltenden tschechischen Sängerinnen den Weg zu den auf Deutsch gesungenen Arbeiterliedern (das Üben der richtigen Aussprache war ein wichtiger Bestandteil des Chorwochenendes in Sayda) und die SängerInnen aus Annaberg werden noch lange das tschechische Bergmannslied „Již opět z věže“/„Schon wieder vom Turm“ oder den Kanon „Bejvávalo“/„Es war einmal“ summen, den sie beiläufig gelernt haben, weil sie tschechische Lieder so mögen.
Mit dem Konzert in Chemnitz war das Projekt aber noch nicht zu Ende: Mitte Mai haben sich die beiden Chöre noch einmal getroffen, um die Erlebnisse auszuwerten und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Sie waren sich einig: das Konzert hat jegliche Erwartungen übertroffen und alle würden sich freuen, irgendwann wieder gemeinsam auf der Bühne zu stehen.
Wer sich für dieses Projekt interessiert und das Konzert von zu Hause aus anhören möchte, der hat dazu die Gelegenheit: Ein professionell erstellter Videomitschnitt ist vor kurzem auf YouTube erschienen.